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Ende der achtziger Jahre hatte Professor Solanka genug vom Akademikerleben, von seiner Kleinlichkeit, seinen Nahkämpfen und seinem ultimativen Provinzialismus. »Das Grab gähnt vor uns allen, aber für die Dozenten gähnt es vor Langeweile«, erklärte er Eleanor und setzte hinzu - unnötigerweise, wie sich ergab »Stell dich schon mal auf ein Leben in Armut ein.« Dann gab er zur Bestürzung seiner Kollegen, doch mit der uneingeschränkten Zustimmung seiner Frau seine sichere Position am King’s College in Cambridge auf - wo er Forschungen über die Verantwortlichkeit des Staates für seine Bürger und seinen Bürgern gegenüber und über die parallele und zuweilen gegensätzliche Vorstellung des Souveräns an sich betrieben hatte - und zog nach London (Highbury Hill, in Hörweite des Arsenal Stadions). Kurz darauf stürzte er sich ins, jawohl, Fernsehgeschäft; was ihm, wie vorauszusehen war, viel neidische Verachtung eintrug, vor allem, als die BBC ihn beauftragte, eine Spätabend-Reihe über die Geschichte der Philosophie zu entwickeln, deren Protagonisten Professor Solankas bekannte Sammlung übergroßer Eierkopfpuppen waren, die er alle eigenhändig angefertigt hatte.
Das war schlicht und einfach zuviel. Was bei einem geschätzten Kollegen als tolerierbare Exzentrizität angesehen worden wäre, wurde bei einem feigen Deserteur zur unzumutbaren Torheit, und Braingirls Abenteuer wurde noch vor der Ausstrahlung von großen und kleinen Intellos einstimmig lächerlich gemacht. Dann wurden die Folgen gesendet, und innerhalb weniger Monate stieg es zum allgemeinen Erstaunen und zum Kummer der Kritikaster vom vergnüglichen Geheimtip einer gebildeten Koterie zur Klassik-Kultserie mit einer schönen jugendlichen und schnell wachsenden Fangemeinde auf, bis ihm schließlich die Ehre zuteil wurde, auf den begehrten Platz nach den Hauptabendnachrichten verlegt zu werden. Und dort entwickelte es sich zum echten Prime-Time-Hit.
Am King’s war bekannt, daß Malik Solanka mit Mitte Zwanzig in Amsterdam - wo er an einem links tendierenden, von Faberge finanzierten Institut über Religion und Politik sprechen sollte - das Rijksmuseum besucht hatte und in diesem Schatzkästlein von einer Ausstellung gewissenhaft im Stil der Zeit eingerichteter Puppenhäuser hingerissen war, einzigartigen Abbildern des häuslichen Lebens in Holland im Laufe der Jahrhunderte. Sie waren vorn offen, als hätten Bomben ihre Fassaden zerstört; oder glichen kleinen Theatern, die er durch seine Anwesenheit vervollständigte. Er war ihre vierte Wand. Allmählich sah er ganz Amsterdam en miniature: sein Hotel an der Herengracht, das Anne-Frank-Haus, die unglaublich schönen Surinamesinnen. Es war ein Trick des Gehirns, menschliches Leben in kleiner, reduzierter Puppenform erscheinen zu lassen. Und das Ergebnis gefiel dem jungen Solanka. Ein bißchen Bescheidenheit im Hinblick auf den Umfang menschlichen Bemühens war wünschenswert. Hatte man im Kopf den Schalter umgelegt, fiel es schwer, die Dinge auf die alte Art und Weise zu sehen. Klein war schön, wie Schumacher damals gerade zu behaupten begann.
Tag um Tag besuchte Malik die Puppenhäuser im Rijksmuseum. Niemals zuvor im Leben hatte er daran gedacht, irgend etwas mit seinen Händen zu machen. Jetzt schwirrte sein Kopf von Meißeln und Klebstoff, Stoffstücken und Nadeln, Scheren und Kleister. Er ersann Tapeten und Polstermöbel, erträumte Bettwäsche, entwarf Badezimmerarmaturen. Nach einigen Besuchen wurde ihm jedoch klar, daß Häuser allein ihm nicht genügten. Seine imaginären Behausungen mußten Bewohner haben. Ohne Menschen hatte es keinen Sinn. Die holländischen Puppenhäuser ließen ihn trotz all ihrer Feinheit und Schönheit, und obwohl sie seine Phantasie möblieren und dekorieren konnten, ans Ende der Welt denken, an irgendeinen seltsamen Kataklysmus, durch den das Eigentum unbeschädigt blieb, während alle Lebewesen vernichtet worden waren. (Das war viele Jahre vor der Erfindung der ultimativen Rache des Leblosen am Lebenden, der Neutronenbombe.) Nachdem ihm diese Idee gekommen war, entwickelte er eine Abneigung gegen das Museum. Er begann sich Hinterzimmer des Hauses vorzustellen, die mit riesigen Haufen von Miniatur-Toten angefüllt waren: Vögeln, Tieren, Kindern, Dienstboten, Schauspielern, vornehmen Herrschaften. Eines Tages verließ er das große Museum und reiste nie wieder nach Amsterdam.
Bei seiner Rückkehr nach Cambridge begann er umgehend eigene Mikrokosmen zu konstruieren. Seine Puppenhäuser waren von Anfang an Produkte einer idiosynkratischen persönlichen Vorstellung. Anfangs waren sie verspielt, ja märchenhaft; Science-Fiction-Gebilde, versetzt in die Welt der Zukunft, keine Nachbildungen der Vergangenheit, welche bereits von den Miniaturisten-Meistern der Niederlande auf unvergleichliche Weise eingefangen worden war. Diese Sci-Fi-Phase währte nicht lange. Schon bald lernte Solanka, wie wertvoll es ist, genau wie die großen Matadore dicht am Stier zu kämpfen; das heißt, er benutzte das Material seines eigenen Lebens und seiner unmittelbaren Umgebung und verfremdete es durch die Alchimie der Kunst. Diese Erkenntnis, das, was Eleanor als Blitzlichtmoment bezeichnet hätte, führte letztlich zu einer Serie von Great Mind-Puppen, häufig als kleine Stilleben arrangiert - Bertrand Russell, wie er bei einer Pazifistenversammlung im Krieg von Polizisten zusammengeschlagen wurde, Kierkegaard, wie er nur für die Pause in die Oper ging, damit seine Freunde nicht dachten, er arbeite zuviel, Machiavelli, wie er der grausamen Folter des sogenannten strappado unterworfen wurde, Sokrates, wie er den unvermeidlichen Schierlingsbecher trank, und Solankas Liebling, ein zweigesichtiger, vierarmiger Galileo: Ein Gesicht murmelte fast lautlos die Wahrheit, während ein Paar Arme, in den Falten seiner Gewänder verborgen, ein winziges Modell der Erde, die sich um die Sonne dreht, versteckten; das andere Gesicht, niedergeschlagen und reuig unter dem strengen Blick der Männer in den roten Röcken, widerrief sein Wissen öffentlich, während das zweite Paar Arme frömmelnd eine Bibel umklammert hielt. Jahre später, als Solanka die akademische Welt verließ, sollten diese Puppen für ihn arbeiten. Sie und der wissensdurstige Fragesteller, den er kreierte, um sie zu interviewen, sowie die Stellvertreterin der Zuhörer, die weibliche zeitreisende Puppe Little Brain, die später als Braingirl ein Star werden und in großer Zahl auf der ganzen Welt verkauft werden sollte. Little Brain, sein flotter, modebewußter, doch immer noch idealistischer Candide, sein Edler Kämpfer für die Wahrheit in Stadt-Guerilla-Klamotten, sein Stachelkopf Mädchen-Basho mit der Bettelschale in der Hand auf Reisen weit in die Tiefen Nordjapans hinein.
Das Braingirl war aufgeweckt, flott, furchtlos, ehrlich an Tiefeninformationen, am Erwerb erstklassigen Wissens interessiert; nicht so sehr Schülerin als agent provocateur mit einer Zeitmaschine, verleitete sie die Großen Geister aller Zeiten zu überraschenden Offenbarungen. So stellte sich zum Beispiel heraus, daß der Lieblings-Romanautor Baruch Spinozas, des Ketzers aus dem siebzehnten Jahrhundert, RG. Wodehouse war, ein erstaunlicher Zufall, denn der Lieblingsphilosoph des unsterblichen, Shimmy tanzenden Butlers Reginald Jeeves war Spinoza. (Spinoza, der unsere Fäden durchschnitt, der Gott erlaubte, vom Posten des göttlichen Puppenspielers zurückzutreten, und der glaubte, diese Offenbarung sei ein Ereignis gewesen, das nicht einfach so über die Menschheitsgeschichte gekommen ist, sondern in ihr gesteckt habe. Spinoza, der niemals unpassende Hemden oder Krawatten trug.) Die Großen Denker in Braingirls Abenteuerkonnten aber ebenfalls Zeitspringer sein. Der ibero-arabische Denker Averroes war, wie sein jüdisches Gegenstück Maimonides, ein begeisterter Fan der Yankees.
Nur einmal ging das Braingirl zu weit. Bei ihrem Interview mit Galileo Galilei legte sie dem großen Mann auf die biersaufende Fäkalsprachen-Art der neuen ladettes ihre eigene Keiner verarscht mich-Meinung zu seinen Problemen dar. »O Mann, mit mir hätten die das nicht machen können.« Eindringlich beugte sie sich vor und sagte hitzig: »Wenn so ’n Pope versucht hätte, mich zum Lügen zu zwingen, hätt’ ich sofort ’ne Scheiß-Revolution angezettelt, hätt’ ich. Die Bude überm Kopf hätt ich ihm abgefackelt. Seine ganze Scheißstadt niedergebrannt.« Nun ja, die schlimmsten Ausdrücke wurden schon in einem frühen Stadium der Produktion zu Mist abgemildert, aber das war nicht das Problem. Brandstiftung im Vatikan war für die Bosse der Ätherwellen zuviel, und das Braingirl mußte zum erstenmal die lähmende Demütigung der Zensur erleiden. Und konnte nichts dagegen tun, es sei denn, mit Galileo zusammen die Wahrheit flüstern: Und sie bewegt sich doch. Ich hätte auch gern alles in Flammen aufgehen lassen ...
Zurück nach Cambridge. Selbst Solly Solankas erste Versuche - seine Raumstationen und kokonähnlichen Konstruktionen zum Zusammenbauen auf dem Mond - zeigten eine Originalität und Erfindungsgabe, die, in der Tischgesprächs-Meinung eines Spezialisten für französische Literatur, der sich mit Voltaire beschäftigte, seinem eigenen Werk erfreulicherweise fremd sei. Dieses Bonmot wurde von allen, die in Hörweite saßen, mit schallendem Gelächter quittiert.
Erfreulicherweise fremd. So spricht man in Oxbridge, dort macht man diese scherzhaften Beleidigungen, die ganz und gar nicht ernst gemeint und zugleich doch tödlich ernst sind. Professor Solanka vermochte sich nie ganz an diese Sticheleien zu gewöhnen, war häufig zutiefst von ihnen verletzt, gab immer vor, sie komisch zu finden, fand sie aber kein einziges Mal zum Lachen. Seltsamerweise war dies ein Zug, den er mit seinem Voltaireschen Gegner gemeinsam hatte, der den einschüchternden Namen Krysztof Waterford-Wajda trug, aber gemeinhin als Dubdub bekannt war und mit dem ihn tatsächlich eine überaus seltsame Freundschaft verband. Waterford-Wajda hatte sich, genau wie Solanka, unter dem Druck der unnachsichtigen Kollegen dem erwarteten Gesprächsstil angepaßt, fühlte sich aber ebenfalls höchst unbehaglich dabei. Das wußte Solanka, und deswegen nahm er ihm das erfreulicherweise fremd nicht übel. Das Gelächter der Zuhörer aber vergaß er nie.
Dubdub war heiter, ein Old Etonian, wohlhabend, halb Wonne aller Hurlingham-Club-Debütantinnen, halb polnischer Finsterling, Sohn eines Selfmademan, eines untersetzten, eingewanderten Glasers, der aussah, redete und trank wie ein Straßenrowdy, sein Vermögen mit Doppelfenstern verdient und zum Entsetzen der Country-House-Clique eine erstaunlich gute Partie gemacht hatte (»Sophie Waterford hat einen Polen geheiratet!«). Dubdub verfügte über das glatthaarige, attraktive Äußere von Rupert Brooke, gemindert durch hohle Wangen, einen Schrank voll grell gemusterter Tweed-Jacketts, ein Schlagzeug, einen schnellen Wagen und keine Freundin. Auf einem Freshman-Ball im ersten Semester schlugen in den sechziger Jahren emanzipierte junge Frauen seine Aufforderung zum Tanzen aus, woraufhin er in den Klageruf ausbrach: »Warum sind die Mädchen in Cambridge alle so unhöflich?« Und irgendeine herzlose Andrée oder Sharon antwortete: »Weil die meisten Männer so sind wie Sie.« In der Warteschlange am warmen Buffet bot er - im Scherz - einer anderen jungen Schönheit sein Würstchen an. Und sie, diese dämliche Sabrina, diese Nicki, die daran gewöhnt war, unerwünschte Verehrer abzuschmettern, ohne mit der Wimper zu zucken, antwortete zuckersüß: »Oh, aber es gibt Tiere, die ich niemals essen würde.«
Nun muß man zugeben, daß auch Solanka selbst Dubdub mehr als einmal aufgezogen hatte. Bei ihrer gemeinsamen Abschlußfeier im freiheitsbewegten Sommer 1966, als sie es sich, im Talar, hochgestimmt und eingeengt von Eltern, auf dem Rasen vor dem College gestatteten, von der Zukunft zu träumen, verkündete Dubdub erstaunlicherweise seine Absicht, Romancier zu werden. »Vielleicht wie Kafka«, sinnierte er und zeigte sein breites Oberklassengrinsen, das Hockey-Captain-Grinsen seiner Mutter, das nicht mal eine Andeutung von Schmerz, Armut oder Zweifel je hatte trüben können und das angesichts seines väterlichen Erbes, der dichten, dunklen Augenbrauen, die an unaussprechliche Entbehrungen seiner Vorfahren in der häßlichen Stadt Lodz erinnerten, so fehl am Platz wirkte. »Im Rattenloch. Konstruktion einer Maschine ohne Sinn und Zweck. Wut. So ähnlich.«
Solanka unterdrückte ein Lachen und sagte sich mitfühlend, daß es in dem Konflikt zwischen diesem Lächeln und diesen Augenbrauen, zwischen Silberlöffel-England und Blechlöffel-Polen, zwischen dieser strahlenden, einsachtzig großen Cruella-De-Vil-Modepuppe von Mutter und diesem vierschrötigen, flachgesichtigen Bullen von Vater möglicherweise wirklich Raum genug geben mochte, in dem ein Schriftsteller wachsen, blühen und gedeihen konnte. Wer konnte das wissen? Das waren vielleicht sogar genau die richtigen Wachstumsbedingungen für diesen unmöglichen Hybriden, einen englischen Kafka.
»Oder aber«, sinnierte Dubdub, »man könnte sich an kommerzielleren Dingen versuchen. Das Tal der Zuckerpuppen. Oder es gibt einen glücklichen Mittelweg zwischen anspruchsvoll und schmalzig. Die meisten Menschen sind halbgebildet, Solly, keine Widerrede. Sie wollen nur ein bißchen Anregung, aber bloß nicht zu viel. Außerdem übrigens nicht zu lang. Keinen von diesen dicken Wälzern, Tolstoi, Proust. Kleine Bücher, von denen man keine Kopfschmerzen kriegt. Die großen Klassiker, nacherzählt - in Kurzform - als Groschenheft. Othello aufgepeppt als Die Morde des Mohren. Wie findest du das?«
Das reichte. Aufgeputscht von Waterford-Wajdas erstklassigem Champagner - von seinen eigenen Eltern hatte es keiner für nötig gehalten, von Bombay anzureisen, um an seiner Abschlußfeier teilzunehmen, und Dubdub hatte großzügig darauf bestanden, ihm ein Glas einzuschenken, das er ständig wieder auffüllte -, brach Solanka in einen leidenschaftlichen Protest gegen Krysztofs absurde Vorschläge aus und flehte allen Ernstes, der Welt möchten die literarischen Ergüsse des Autors Waterford-Wajda erspart bleiben. »Bitte, bitte, keine finster-dräuenden Landsitz-Sagas: Wiedersehen mit Brideshead im Stil von Das Schloß. Die Verwandlung in Blandings. Erbarmen! Und halte dich bei Sexszenen zurück. Du bist eher wie Alex Portnoy als wie Jackie Susann, die, wie du dich erinnern wirst, gesagt hat, daß sie Mr. Roths Talent bewundere, ihm aber nicht die Hand schütteln wollte. Vor allem aber verzichte auf deine Bestseller-Klassiker. Das Cordelia-Rätsel? Elsinores Ungewißheit? Großer Gott!«
Nach mehreren Minuten derart freundschaftlich-unfreundschaftlicher Neckerei lenkte Dubdub gutmütig ein: »Na ja, vielleicht werd’ ich statt dessen ja auch Filmregisseur. Wir wollen gerade nach Südfrankreich fahren. Dort werden Filmregisseure vermutlich gebraucht.«
Malik Solanka hatte immer schon eine Schwäche für den skurrilen Dubdub gehabt, zum Teil, weil er derartige Dinge sagen konnte, aber auch, weil unter all den angelernten Albernheiten im Grunde ein gutes, weiches Herz versteckt war. Außerdem war er ihm etwas schuldig. Im Market-Hill-Studentenheim des King’s College hatte der achtzehnjährige Solanka an einem kalten Herbstabend des Jahres 1963 eines Retters bedurft. Er hatte den ganzen ersten Tag im College in einem wilden, übertriebenen Angstzustand verbracht, in dem er das Bett nicht verlassen konnte, weil er überall Dämonen sah. Die Zukunft glich einem weit offenen Rachen, der nur darauf wartete, ihn zu verschlingen, wie Kronos seine Kinder verschlungen hatte, und die Vergangenheit - Solankas Familienbande waren übel zerschlissen -, die Vergangenheit war ein zerbrochener Krug. Nur diese unerträgliche Gegenwart war geblieben, in der er, wie er meinte, nicht existieren konnte. Es war viel einfacher, im Bett zu bleiben und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. In diesem charakterlos modernen Zimmer mit Kiefernholzmöbeln und Stahlrahmenfenstern verbarrikadierte er sich gegen alles, was das Schicksal für ihn bereithielt. Vor der Tür ertönten Stimmen; er antwortete nicht. Schritte kamen und gingen. Um sieben Uhr abends jedoch rief eine Stimme, die anders klang als alle anderen - lauter, weicher und absolut sicher, daß eine Antwort kommen würde -, auf einmal: »Vermißt jemand da drin einen verdammt großen Koffer mit einem komischen ausländischen Namen drauf?« Und Solanka reagierte - zu seiner eigenen Überraschung. So endete der Tag des Schreckens, der unterbrochenen Regungsfähigkeit, und seine Studentenjahre begannen. Dubdubs gräßliche Stimme hatte, genau wie der Kuß eines Prinzen, den bösen Bann gebrochen.
Solankas irdische Habe war irrtümlich an das College-Studentenheim auf dem Peas Hill geliefert worden. Krys - damals war er noch nicht Dubdub - suchte einen Karren, half Solanka, den Schrankkoffer aufzuladen und zu seiner richtigen Adresse zu fahren, dann schleppte er den unglücklichen Eigentümer auf ein Bier und ein Abendessen in die College Hall. Später saßen sie nebeneinander in diesem Saal und lauschten dem blendend geschniegelten Provost des King’s, der ihnen erzählte, daß sie aus drei Gründen in Cambridge waren: Intellekt! Intellekt! Intellekt! Und daß sie in den vor ihnen liegenden Jahren das meiste, mehr als in jedem Studier- oder Hörsaal, in der Zeit lernen würden, die sie bei Besuchen in den Zimmern der anderen verbrachten, wo sie einander befruchten würden. Waterford-Wajdas unüberhörbares Gewieher -»HA, ha, ha, HA« - unterbrach das betroffene Schweigen, das dieser Bemerkung folgte. Für dieses respektlose Lachen liebte Solanka ihn.
Dubdub wurde weder Romancier noch Filmregisseur. Er blieb weiter auf der Uni, errang den Doktorgrad und bekam schließlich eine Dozentenstelle angeboten, die er sich mit der dankbaren Miene eines Mannes schnappte, der die Frage nach dem Rest seines Lebens gerade endgültig gelöst hat. Mithilfe dieser Miene erspähte Solanka den Dubdub hinter der Maske des Golden Boy, den jungen Mann, der sich verzweifelt danach sehnte, der Welt der Privilegierten, in die er hineingeboren wurde, zu entkommen. Solanka versuchte, durch allerlei Erklärungen eine hohlköpfige Dame der Gesellschaft als Mutter und ein ungebildetes Rauhbein von Vater heraufzubeschwören, doch seine Phantasie versagte; die Eltern, die er persönlich kennengelernt hatte, waren ganz einfach liebenswürdig und schienen ihren Sohn sehr zu lieben. Dennoch war Waterford-Wajda eindeutig verzweifelt und bezeichnete, wenn er betrunken war, seine Stelle am King’s sogar als verdammten Rettungsanker, das einzige, was ich habe. Und das, während er nach normalen Maßstäben doch so vieles hatte. Den schnellen Wagen, das Schlagzeug, den Familiensitz in Roehampton, den Treuhandfonds, die Tatlerischen Verbindungen. In einem Anfall von Mitgefühlsverweigerung, den er später sehr bedauerte, ermahnte er Dubdub, sich nicht so sehr im Selbstmitleid zu suhlen. Dubdub erstarrte, nickte, stieß ein hartes Lachen aus - »HA-ha-ha-HA« - und sprach viele Jahre lang nie wieder über persönliche Dinge. Die Frage nach Dubdubs intellektuellen Fähigkeiten blieb für viele seiner Kollegen unbeantwortet: das Dubdub-Rätsel. Er wirkte so oft so töricht - ein Spitzname, der sich nicht hielt, weil er selbst für Cambridge-Männer zu grausam war, lautete Pooh, nach dem unsterblichen Bären des Braingirls doch seine akademischen Leistungen trugen ihm so manche Beförderung ein. Die Arbeit über Voltaire, mit der er den Doktorgrad errang und die für ihn das Sprungbrett für seinen späteren Ruhm bildete, las sich wie eine Verteidigung von Pangloss - sowohl des anfänglichen Leibnizschen Überoptimismus dieses ehrenwerten, doch imaginären Herrn als auch seines späteren, abwehrenden Quietismus. Dies widersprach so grundlegend den dystopischen, kollektivistischen, politisch engagierten Zeitströmungen, in denen er schrieb, daß es auf Solanka genauso wie auch auf andere ernstlich schockierend wirkte. Dubdub hielt alljährlich eine Reihe von Vorlesungen mit dem Titel Cultiver Son Jardin. Nur wenige Vorlesungen in Cambridge - die von Pevsner, Leavis, keine weiteren - hatten vergleichbar zahlreiche Hörer gehabt. Die jungen Menschen (oder, um genau zu sein, die jüngeren, denn Dubdub hatte trotz seiner stockkonservativen Aufmachung mit seiner Jugend noch nicht abgeschlossen) kamen, um zu stören und zu buhen, gingen dann aber eher ruhig und nachdenklich hinaus, verführt von seinem zutiefst friedfertigen Wesen, von derselben blauäugigen Naivität und der gleichzeitigen Gewißheit, gehört zu werden, die Malik Solanka am ersten Tag an der Universität aus seinen Angstzuständen gerissen hatten.
Die Zeiten ändern sich. Eines Morgens Mitte der Siebziger stahl sich Solanka ganz hinten in den Hörsaal seines Freundes. Was ihn jetzt beeindruckte, war die Härte dessen, was Dubdub hier äußerte, und die Art, wie er es mit seiner stark kontrastierenden, nahezu pythonesken Nervosität entschärfte. Beobachtete man ihn, sah man einen Gecken in Tweed, hoffnungslos weit weg von dem, was damals immer noch als Zeitgeist bezeichnet wurde. Hörte man ihm jedoch zu, vernahm man etwas ganz anderes: eine allumfassende, Beckettsche Trostlosigkeit. »Erwartet nichts, das wißt ihr doch«, erklärte Dubdub ihnen, den linken Radikalen wie den bärtigen Kahlen, und schwenkte ein ramponiertes Exemplar von Candide. »Hier steht es, in diesem guten Buch. Das Leben läßt sich nicht verbessern. Schrecklich zu hören, ich weiß, aber da haben Sie’s. Besser als jetzt wird’s nicht werden. Die Perfektionierbarkeit des Menschen ist, könnte man sagen, ganz einfach ein schlechter Witz Gottes.«
Zehn Jahre zuvor, als noch verschiedene Utopien - die marxistische, die von den Hippies vertretene - scheinbar hinter der nächsten Ecke zu finden waren, als wirtschaftlicher Wohlstand und Vollbeschäftigung es den intelligenten jungen Menschen erlaubten, ihren brillanten, idiotischen Aussteigerphantasien oder revolutionären Impulsen nachzugehen, wäre er vielleicht gelyncht oder wenigstens durch Zwischenrufe zum Schweigen gebracht worden. Dies aber war das England in den Nachwehen des Bergarbeiterstreiks und der Dreitagewoche, ein gespaltenes England nach dem Vorbild von Luckys großem Monolog in Warten auf Godot, in dem der Mensch, kurz gesagt, schrumpfte und degenerierte und jener goldene Moment des Optimismus, da die beste aller möglichen Welten gleich um die Ecke zu liegen schien, sehr schnell verblaßte. Dubdubs stoische Auffassung von Pangloss - freu dich der Welt, mit Warzen und allem, denn sie ist alles, was du hast, und Freude wie Verzweiflung sind daher austauschbar - kam sehr schnell zum Tragen.
Sogar Solanka war davon beeindruckt. Während er sich bemühte, seine Gedanken über das ewige Problem von Autorität und Individuum zu formulieren, glaubte er zuweilen Dubdubs Stimme zu hören, die ihn anspornte. Es war eine Zeit des Dirigismus, und es war zum Teil Waterford-Wajda, der verhinderte, daß er im allgemeinen Strom mitschwamm. Der Staat kann dich nicht glücklich machen, flüsterte ihm Dubdub ins Ohr, er kann dich nicht gesund machen oder ein gebrochenes Herz heilen. Der Staat leitete Schulen, aber könnte er deine Kinder lehren, das Lesen zu lieben, oder wäre das deine Aufgabe? Es gab einen National Health Service, aber was könnte der gegen den hohen Prozentsatz von Menschen tun, die zu ihrem Arzt laufen, obwohl das gar nicht notwendig wäre? Es gab Sozialwohnungen, gewiß, aber das nachbarschaftliche Verhältnis stand nicht auf dem Programm der Regierung. Solankas erstes Buch, ein schmaler Band mit dem Titel Was wir brauchen, ein Bericht über die Veränderung der Einstellung des politischen Spektrums in der europäischen Geschichte zu dem Problem Staat gegen Individuum, wurde von beiden politischen Lagern angegriffen und später als einer der Vorläufer für das geschildert, was schließlich als Thatcherismus bezeichnet wurde. Professor Solanka, der Margaret Thatcher verabscheute, räumte schuldbewußt einen Teil dessen als Wahrheit ein, was er als Anschuldigung empfand. Thatcherscher Konservatismus war die Gegenkultur, die schiefgelaufen war: Sie teilte das Mißtrauen seiner Generation gegen die Institutionen der Macht und benutzte ihre Sprache der Opposition, um die alten Machtblöcke der Welt zu zerstören - die Macht nicht etwa dem Volk zu geben, was immer das heißen mochte, sondern einem Geflecht von spendierfreudigen Kumpanen. Es war eine bachaufwärts fließende Wirtschaft, und das war die Schuld der Sechziger. Derartige Überlegungen trugen hauptsächlich zu Professor Solankas Entschluß bei, die Welt des Denkens zu verlassen.
Ende 1970 war Krysztof Waterford-Wajda so etwas wie ein Star. Akademiker waren charismatisch geworden. Bis zum Sieg der Naturwissenschaft, durch den die Physik zur neuen Metaphysik wurde und die Mikrobiologie, nicht die Philosophie, sich mit der großen Frage beschäftigte, was es bedeute, Mensch zu sein, war es nicht mehr weit; die Literaturkritik war die Glanznummer, und ihre Titanen schritten mit Siebenmeilenstiefeln von Kontinent zu Kontinent, um sich auf einer immer größeren internationalen Bühne zu produzieren. Dubdub bereiste die Welt, wie Peter Sellers in The Magic Christian, mitsamt einer eigenen Windmaschine, die sein früh ergrautes Lockenhaar selbst in Innenräumen wehen ließ. Manchmal wurde er von eifrigen Abgeordneten mit dem mächtigen Franzosen Jacques Derrida verwechselt, wehrte diese Ehre aber mit einem englischen Lächeln der Geringschätzung ab, während sich seine polnischen Augenbrauen bei dieser Beleidigung zusammenzogen.
Das war die Zeit, in der die beiden großen Industrien der Zukunft geboren wurden. Die Kulturindustrie sollte in den kommenden Jahrzehnten jene der Ideologie ersetzen, so grundlegend werden, wie es die Wirtschaftswissenschaften gewesen waren, und eine ganze neue Nomenklatura kultureller Kommissare hervorbringen, eine neue Art von Apparatschiks, in großen Ministerien der Definition, Exklusion, Revision und Persekution angestellt, und eine Dialektik auf der Basis des neuen Dualismus von Defensive und Offensive. Und wenn Kultur der neue Säkularismus der Welt war, dann war ihre neue Religion der Ruhm, und die Industrie - oder besser, die Kirche - der Prominenz würde einer neuen ecclesia sinnvolle Arbeit verschaffen, eine Missionierung, zugeschnitten auf die Eroberung dieser neuen Grenze durch den Bau ihrer glitzernden Zelluloid-Vehikel und ihrer Kathodenstrahlraketen, durch die Entwicklung neuer Treibstoffe aus Klatsch, mit welchen die Auserwählten zu den Sternen flogen. Und um die dunkleren Erfordernisse des neuen Glaubens zu erfüllen, gab es gelegentlich Menschenopfer und steile, flügelverbrennende Abstürze.
Dubdub war ein früher Ikarus-ähnlicher Ausbrenner. In diesen goldenen Jahren sah Solanka nur wenig von ihm. Das Leben trennt uns mit seinen anscheinend zufälligen Geschehnissen, und wenn wir eines Tages den Kopf schütteln, als erwachten wir aus einer Träumerei, sind uns die Freunde fremd geworden und können nicht zurückgeholt werden: »Kennt hier denn niemand den armen Rip van Winkle?« fragen wir wehmütig, und niemand scheint ihn mehr zu kennen. So kam es mit den beiden alten Collegefreunden. Dubdub war jetzt meistens in Amerika, in Princeton hatte man ihm irgendeinen Lehrstuhl angeboten, und anfangs gab es noch Anrufe hin und her, dann Weihnachts- und Geburtstagskarten, dann nichts mehr. Bis eines milden Sommerabends 1984 in Cambridge, als der alte Ort sein perfektestes Märchenimage bot, eine Amerikanerin an die Eichen-, die Außentür von Professor Solankas Räumlichkeiten - ehemals von E. M. Förster bewohnt - im Treppenhaus A über der Studentenbar klopfte. Sie hieß Perry Pincus; und war feingliedrig, dunkel, großbusig, sexy, jung, aber zum Glück nicht jung genug, um eine Studentin zu sein. All diese Dinge machten sofort einen positiven Eindruck auf Solankas melancholische Stimmung. Er erholte sich gerade vom Ende einer ersten, kinderlosen Ehe, und Eleanor Masters lag noch in ferner Zukunft. »Krysztof und ich sind gestern in Cambridge angekommen«, sagte Perry Pincus. »Wir wohnen im Garden House. Oder vielmehr, ich wohne im Garden House. Er ist im Addenbrooke’s abgestiegen. Gestern abend hat er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Er war furchtbar depressiv. Er hat nach Ihnen gefragt. Haben Sie einen Drink für mich?«
Sie kam herein und musterte die fremde Umgebung anerkennend. Die Häuser, kleine und größere, und die humanoiden Figuren, die überall herumsaßen, winzige Gestalten in den Häusern natürlich, aber auch andere außerhalb, auf Professor Solankas Möbeln, in den Winkeln seiner Zimmer, weiche und harte Figuren, männlich und weiblich, ebenfalls größere und kleine. Perry Pincus war sorgfältig - wenn auch dick - bemalt, ihre Augenlider wurden von schweren schwarzen Wimpernverlängerungen herabgezogen, und sie trug die volle Sexkampfausrüstung, ein kurzes, enges Outfit und Stilettos. Nicht die übliche Aufmachung einer Frau, deren Liebhaber gerade einen Selbstmordversuch begangen hat, aber sie bot keine Entschuldigungen für sich an. Perry Pincus war eine junge Absolventin des Fachs Englische Literatur, der es gefiel, mit den Stars ihrer zunehmend unklösterlichen Welt zu bumsen. Als Anhängerin beiläufiger Begegnungen waren deren Konsequenzen (Ehefrauen, Selbstmorde) nicht ihr Ding. Aber sie war strahlend, lebhaft und hielt sich, wie wir alle es tun, für einen akzeptablen Menschen, wenn nicht vielleicht sogar für einen guten. Nach ihrem ersten Schluck Wodka - Professor Solanka hatte stets eine Flasche davon im Tiefkühlfach - sagte sie sachlich: »Es ist eine klinische Depression. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist süß, aber ich bin nicht gut darin, Männern mit Problemen Hilfestellung zu leisten. Ich bin nicht der Krankenschwesterntyp. Ich mag lieber Männer, die die Verantwortung übernehmen.« Nach zwei Gläsern sagte sie: »Ich glaube, er war noch Jungfrau, als wir uns kennenlernten. Wäre das möglich? Er wollte es natürlich nicht zugeben. Behauptete, zu Hause gelte er als gute Partie. Das erwies sich als zutreffend, finanziell gesehen, aber ich bin kein geldgieriger Typ.« Nach drei Gläsern sagte sie: »Alles, was er wollte, war einen Blow Job oder mich in den Arsch ficken. Was schon okay war, wissen Sie, wie auch immer. Davon krieg’ ich ’ne ganze Menge. So seh ich eben manchmal aus: Junge mit Titten. Das zieht die sexuell verwirrten Kerle an. Glauben Sie mir. Ich weiß Bescheid.« Nach vier Gläsern sagte sie: »Da wir gerade von sexuell Verwirrten sprechen, Professor: tolle Püppchen.«
Er entschied, daß er Hunger hatte, aber nicht so großen Hunger, und führte sie sanft die Treppe hinunter, auf die King’s Parade hinaus und in ein Taxi. Durchs Fenster starrte sie ihn mit verschmiertem Make-up und verwirrtem Ausdruck an, dann lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und zuckte ganz leicht die Achseln. Was auch immer. Später erfuhr er, daß Perry Arschkneiferin in den Literaturzirkeln weltweit berühmt war. Heutzutage konnte man aus allen möglichen Gründen berühmt werden, und das war sie.
Am nächsten Morgen besuchte er Dubdub - nicht im Hauptkrankenhaus, sondern in einem hübschen, alten Backsteinbau, der ein Stückchen die Trumpington Road hinunter auf einem grünen, belaubten Grundstück stand: wie ein Landhaus für die Hoffnungslosen. Dubdub stand, eine Zigarette rauchend, an einem Fenster und trug einen frischen, breit gestreiften Pyjama unter dem, was wie sein alter Schulmorgenrock aussah, ein zerschlissenes, fleckiges Kleidungsstück, das möglicherweise die Rolle einer Sicherheitsdecke spielte. Seine Handgelenke waren bandagiert. Er wirkte schwerer, älter, doch dieses gottverdammte Höflichkeitslächeln war immer noch da, immer noch sofort abrufbereit. Professor Solanka dachte sich, daß er, wenn seine eigenen Gene ihn dazu verurteilt hätten, tagtäglich, sein Leben lang, eine solche Maske zu tragen, vor langer Zeit schon mit bandagierten Handgelenken hier gelandet wäre.
»Ulmensterben«, sagte Dubdub und zeigte auf ein paar Baumstümpfe. »Schreckliche Krankheit. Die Ulmen von Old England - fort und dahin.« Lorst and gorn. Professor Solanka sagte nichts. Er war nicht gekommen, um über Bäume zu sprechen. Dubdub wandte sich zu ihm um; er hatte verstanden. »Erwarte nichts, und du wirst niemals enttäuscht werden, eh?« murmelte er mit jungenhaft beschämter Miene. »Hätte auf meine eigenen Lektionen hören sollen.« Solanka antwortete immer noch nicht. Dann legte Dubdub zum erstenmal in vielen Jahren die Rolle des Old Etonian ab. »Es hat mit dem Leiden zu tun«, sagte er rundheraus. »Warum müssen wir alle so leiden? Warum gibt es so viel Leid? Warum kann das niemals aufhören? Man kann Deiche bauen, aber das Wasser kommt immer wieder durchgesickert, und dann gibt der Deich eines Tages nach. Und ich bin es nicht allein. Ich meine, ich bin es schon, aber es geht jedermann so. Dir auch. Warum geht es immer weiter? Es bringt uns um. Ich meine, mich. Es bringt mich um.«
»Das klingt mir ein bißchen zu abstrakt«, sagte Professor Solanka behutsam, sanft.
»Nun ja.« Das war eindeutig ein Klicken. Die Abwehrschilde waren wieder an Ort und Stelle. »Tut mir leid, daß ich nicht zum Kraulen komme. Bißchen mühsam, Braingirls Bär zu sein.«
»Bitte«, sagte Professor Solanka, »erzähl’s mir.« »Das ist das Schlimmste«, fuhr Dubdub fort. »Es gibt nichts zu erzählen. Kein direkter oder annähernder Grund. Du wachst eines Tages auf und bist nicht mehr Teil deines Lebens. Du kennst das. Dein Leben gehört nicht mehr dir. Dein Körper ist nicht mehr, ich weiß nicht, wie ich dir die Wucht dieses Gefühls erklären soll, nicht mehr der deine. Es gibt nur Leben, das Leben an sich. Du hast es nicht mehr. Du hast nichts mehr damit zu tun. Das ist alles. Das klingt nicht nach was Besonderem, aber glaube mir. Es ist, als würdest du jemanden hypnotisieren und ihn überzeugen, daß draußen vorm Fenster ein dicker Haufen Matratzen liegt. Er sieht also keinen Grund mehr, nicht zu springen.«
»Ich kenne das, oder eine weniger gravierende Version davon«, bestätigte Professor Solanka, während er an jene lange zurückliegende Nacht in Market Hill dachte. »Und du warst derjenige, der mich da herausgeholt hat. Jetzt ist es an mir, dir den gleichen Dienst zu erweisen.« Der andere schüttelte den Kopf. »Aus dem hier ist leider nicht so einfach herauszukommen.« Die Aufmerksamkeit, die er genossen hatte, der Prominentenstatus, hatte weitgehend zu Dubdubs Existenzkrise beigetragen. Je mehr er zu einer Persönlichkeit wurde, desto weniger fühlte er sich als Mensch. Schließlich hatte er beschlossen, sich ins Kloster des traditionellen Akademikerlebens zurückzuziehen. Nichts mehr von diesem Globetrotter Magic Christian Derridada! Nie mehr eine Performance. Beflügelt von seiner neuen Entschlossenheit, war er nach Cambridge zurückgeflogen, und zwar zusammen mit dem Literatur-Groupie Perry Pincus, einem schamlosen sexuellen Schmetterling, weil er tatsächlich daran glaubte, sich mit ihr niederlassen und um die Verbindung herum ein stabiles Leben aufbauen zu können. So weit war es mit ihm gekommen.
Krysztof Waterford-Wajda sollte noch drei weitere Selbstmordversuche überleben. Doch dann, nur einen Monat bevor Professor Solanka sich metaphorisch das eigene Leben nahm, indem er allem und jedem Lebwohl sagte, das ihm lieb war, und sich mit einer zottelhaarigen Puppe in den Armen nach Amerika aufmachte - einer speziellen Braingirl-Puppe aus der frühen Zeit, in limitierter Auflage, in miserablem Zustand, mit zerrissener Kleidung und beschädigtem Körper -, fiel Dubdub tot um. Drei Arterien waren total verstopft gewesen. Ein simpler Bypass hätte ihn retten können, aber er wollte nicht und stürzte wie eine englische Ulme. Was, wenn man nach Erklärungen suchen wollte, vielleicht dazu beitrug, Professor Solankas Metamorphose auszulösen. Als Professor Solanka in New York an seinen toten Freund dachte, wurde ihm klar, daß er in vielerlei Hinsicht Dubdubs Beispiel gefolgt war: in einem Teil seines Denkens, gewiß, aber auch mit seiner Entscheidung für die monde mediatique; er war nach Amerika gegangen, mitten in die Krise hinein.
Perry Pincus war eine der ersten gewesen, die die Verbindung zwischen den beiden gespürt hatte. Sie war in ihre Geburtsstadt San Diego zurückgekehrt und lehrte nun an einem College die Werke einiger jener Kritiker und Autoren, mit denen sie einst im Bett gewesen war. Pincus 101 nannte sie das, dreist wie eh und je, auf einer der alljährlichen Urlaubskarten, die sie Professor Solanka zu senden pflegte. »Dies ist meine ganz persönliche Greatest-Hits-Sammlung, meine Top Twenty«, schrieb sie und setzte ein wenig bissig hinzu: »Sie gehören nicht dazu, Professor. Ich kann nicht im Werk eines Mannes herumspazieren, wenn ich nicht weiß, welchen Eingang er bevorzugt.« Ihre Festtagsgrüße waren unweigerlich und unverständlicherweise stets von einem Geschenk begleitet, einem Stofftier - Schnabeltier, Walroß, Eisbär. Eleanor hatte sich immer sehr über die alljährlichen Pakete aus Kalifornien amüsiert. »Weil du sie nicht bumsen wolltest«, erfuhr Professor Solanka von seiner Frau, »kann sie dich nicht als Liebhaber sehen. Also versucht sie statt dessen deine Mutter zu sein. Was ist das für ein Gefühl, Perry Arschkneiferins Little Boy zu sein?«